Sonnenuntergang auf dem Jin-Mao-Turm

Die Sonne taucht ein in die Dunstschicht und verliert an Strahlkraft bis man ohne geblendet zu werden in einen feuerroten, ovalen Ball schauen kann. Im fahlen Gegenlicht reiht sich ein Kamm von Hochhäusern hinter den anderen, so weit das Auge reicht...

...Verheißungsvoll geht das Gebäudemeer am Horizont nahtlos in das Licht des Himmels über. Die vertikalen Strukturen der Bauwerke erinnern mich an die erodierten Felsen im Bryce Canyon. Das einzelne stereometrische Haus abstrahiert sich in der Masse zum Bestandteil eines organischen Ganzen, zum Sandkorn einer Felslandschaft aus zerklüftetem Stein. Ich weiß, es wohnen Menschen hier, bin aber eher an eine Wüste erinnert als eine humane Heimat. Vereinzelt fangen die Leuchtreklamen an funkeln. Vielleicht können die bunten Werbetafeln nachts mehr aus der betongrauen Endlosigkeit machen. Wenn man vom Flugzeug aus nachts auf Großstädte hinunter sieht, ist es so, als ob man in die Glut eines heruntergebrannten Feuers schaut. Vor und unter mir liegt eine realgewordene Szenerie aus deftigen Science-Fiction-Filmen. Auf dem Fluss fahren Schiffe Polonaise, zweispurig, jeweils links aneinander vorbei.
Ich befinde mich auf der Aussichtsplattform des Jin-Mao-Turmes 350 Metern über Shanghai-Pudong dem neuentwickelten Prestige-Stadtviertel, wo auch andere Wahrzeichen Shanghais sind, wie zum Beispiel der Fernsehturm „Perle des Ostens“. Man kann von hier oben aus auf die Hubschrauberlandplätze der benachbarten Bankenhochhäuser gucken. Der Jin-Mao-Turm erinnert an einen jungen Bambusspross. In diesem Sinne ist er ein gelungenes, visuelles Paradoxon: der 420 Meter hohe Gigant aus Glas, Stahl und Beton hat alles andere im Kopf, als Photosynthese zu betreiben und wirkt doch wie eine Pflanze, die im Frühling aus dem Boden sprießt. Aus Bambus ist hier so vieles gemacht, manchmal sogar Baugerüste für etwas niedrigere Häuser. Deng Xiaoping höchstpersönlich hat wohl mit einer Rede einen Impuls für die Entwicklung von Shanghai-Pudong und der Region gegeben, die sich im Jin-Mao-Turm materialisiert. Es sei das erste Hochhaus Chinas und reiht sich größenordnungsmäßig ein nach den Zwillingstürmen von Kuala Lumpur und dem Searstower in Chicago. Ein nordamerikanisches Architekturbüro hat (angesichts der Konkurrenz-Entwürfe berechtigterweise) den Zuschlag bekommen. Im oberen Teil des Turmes wird der Dekadenz gehuldigt: auf 32 Etagen kann man in den Suiten des Grand Hyatt Hotel zu fünf Sternen wohnen. Es tröstet, dass das oberste Stockwerk, das achtundachtzigste, den minderzahlenden Besuchern -und damit auch mir- zugänglich ist. Von der Besucherplattform aus kann man nicht nur den Blick über die Stadt schweifen lassen, sondern auch von oben herab in die Hotellobby schauen. Über 152 Metern hinunter dem Barpianisten beim Spielen zuzusehen erregt ein Schwindelgefühl, das von so vielen blankgeputzten Messinggeländern noch gesteigert wird.